Am Montag, dem 23. Juni, fanden im Europäischen Parlament in Straßburg Anhörungen statt. An ihnen nahm auch ein Vertreter der PSL, der Ukrainer Andrej Konovalov, teil. Wir haben Andrej gebeten, über die Veranstaltung zu berichten.
– In ein paar Worten zur Veranstaltung: Wo fand sie statt, wer war der Veranstalter?
– Die Veranstaltung fand im Gebäude des Europarats in Straßburg statt und umfasste mehrere zentrale Treffen: zum einen mit französischen Parlamentarier:innen und zum anderen mit Abgeordneten der Linksfraktion in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE), die linke Vertreter:innen aus verschiedenen europäischen Parlamenten vereint. Der Anlass für die Einladung war eine zur Abstimmung stehende Resolution zum Krieg in der Ukraine, die innerhalb der linken Fraktion aufgrund ihrer Einseitigkeit Fragen aufwarf.
Obwohl die Resolution die Aggression der Russischen Föderation verurteilte, ignorierte sie das Thema der Amnestie für russische politische Gefangene und schwieg zudem über das rapide wachsende Ausmaß politisch motivierter Urteile innerhalb der Ukraine. Diese Urteile beruhen auf Gesetzesartikeln, die internationalen Standards – darunter der UN-Konvention – nicht entsprechen. Gerade diese „blinden Flecken“ im westlichen menschenrechtlichen Diskurs waren einer der Gründe für meine Teilnahme auf Einladung der Abgeordneten von „La France Insoumise“, insbesondere von Sophia Chikirou, einer der Koordinatorinnen der Fraktion in der französischen Nationalversammlung.
Das Gebäude des Europarats selbst – trotz seines Status – hinterließ eher einen nüchternen Eindruck. Paradoxerweise beeindrucken viele moderne Forschungseinrichtungen architektonisch und technologisch mehr. Wichtiger jedoch waren die inhaltlichen und persönlichen Kontakte. Es war eine Gelegenheit, alte Verbündete unter deutschen und französischen Abgeordneten wiederzutreffen und neue Verbindungen zu knüpfen.
Besonders in Erinnerung blieb mir ein privates Gespräch mit Martinus „Tiny“ Kox, dem ehemaligen Vorsitzenden der PACE aus den Niederlanden, der eine sehr klare und fundierte Position äußerte: Ohne offene Kritik an den Menschenrechtsverletzungen und demokratischen Rückschritten in der heutigen Ukraine sei eine echte Verbesserung – weder im Land noch im Kontext des Konflikts – möglich.
Er betonte zudem – ganz im Einklang mit unserer Position –, dass eine solche Kritik nichts mit prorussischen Narrativen zu tun hat, auch wenn sie oft selbst von linken Gegner:innen, einschließlich des Kreises der sogenannten „guten Russen“, in diese Ecke gedrängt wird. Im Gegenteil: Begründete Kritik ist ein Ausdruck von Solidarität mit dem ukrainischen Volk – sofern man linke Grundsätze ernst nimmt.
– Was waren die Ziele der Anhörung und konnten sie erreicht werden?
Wie bereits gesagt, bestand das Hauptziel der Anhörung darin, den Entwurf der Resolution zu überarbeiten, ihn ausgewogener und humanistischer zu gestalten.
Mein persönliches Ziel war es, den europäischen Parlamentarier:innen Fakten zu vermitteln, die heute am Rande der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen – obwohl sie von entscheidender Bedeutung sind. Gemeint sind zehntausende Strafverfahren, die in der Ukraine auf Grundlage von Artikel 111-1 des Strafgesetzbuches – „Kollaboration“ – eingeleitet wurden. Dessen weit gefasste und unklare Formulierung wurde bereits von der Leiterin der UN-Menschenrechtsbeobachtungsmission in der Ukraine und vom UN-Ausschuss gegen Folter kritisiert.
Laut den Ergebnissen der UN vom 17. Juni 2025 wurden Personen, die nach diesem Artikel angeklagt sind, gefoltert oder anderen Formen grausamer Behandlung unterworfen (z. B. in Kellern festgehalten). Diese Informationen sind offiziell, aber erschreckend wenig bekannt.
Meine Aufgabe war es, diese Fakten für die europäischen Abgeordneten sichtbar zu machen – gerade jetzt, da die politische Agenda durch Iran und Israel fast vollständig dominiert wird und die Ukraine aus dem Fokus gerät. Es war mir wichtig, verlässliche Informationen über das Ausmaß politisch motivierter Verfolgung in meinem Heimatland zu übermitteln – einschließlich Statistiken über Tausende Verfahren auf Grundlage eines Artikels, der weder internationalen Rechtsstandards noch Menschenrechtskonventionen entspricht.
Genauso wichtig war mir zu zeigen: Es gibt unter den ukrainischen Linken Menschen, die die Bemühungen der europäischen Abgeordneten unterstützen, die sich für die universelle Gültigkeit der Menschenrechte einsetzen – auch in der Ukraine.
Natürlich war es nicht möglich, Änderungen in den Resolutionstext einzubringen, die das ukrainische Regierungshandeln offen kritisieren oder eine politische Amnestie nicht nur in Russland, sondern auch in der Ukraine fordern – das war absehbar. Wer die politische Architektur der Versammlung kennt, weiß, welche Rolle dort die Kräfte spielen, die sich an der offiziellen Linie des ukrainischen Staates orientieren.
Trotzdem: Der Weg von tausend Meilen beginnt mit dem ersten Schritt. Wir haben diesen Schritt gemacht, indem wir die linke Fraktion um ein grundlegendes Prinzip vereint haben: Menschenrechte müssen überall verteidigt werden – auch in der Ukraine. Das ist ein wichtiger Präzedenzfall und eine Grundlage dafür, künftig die Haltung europäischer Institutionen zu beeinflussen.
– Worum ging es in deinem Vortrag konkret?
Bei beiden Sitzungen konzentrierte ich mich auf konkrete Beispiele und Fakten, um die Diskussion aus dem Bereich der Abstraktion herauszuführen und das tatsächliche Ausmaß der heutigen rechtlichen Katastrophe in der Ukraine aufzuzeigen. Im Mittelpunkt stand Artikel 111-1 des Strafgesetzbuches, auf dessen Grundlage derzeit über 10.000 Strafverfahren eröffnet und mehr als 2.500 Urteile gesprochen wurden – häufig für Handlungen, die nach internationalem Recht nicht als Straftaten gelten.
Ich nannte das Beispiel von Wiktorija Kriukonowa, einer Mitarbeiterin der Rentenkasse in einem von russischen Truppen besetzten Dorf. Sie arbeitete dort 45 Tage, bevor sie auf von der Ukraine kontrolliertes Gebiet wechseln konnte. Für diese 45 Tage fordert die Staatsanwaltschaft sieben Jahre Freiheitsstrafe.
Ein weiteres Beispiel war Tatjana Prokopenko – eine Bewohnerin eines besetzten Gebiets, die humanitäre Hilfe verteilte. Sie tat dies aus Selbsterhaltungsgründen und um ihren Mitmenschen im Dorf zu helfen. Dafür wurde sie zu fünf Jahren Haft verurteilt – über ein Jahr davon hat sie bereits verbüßt. Ihre Handlungen stellen weder aus Sicht des gesunden Menschenverstands noch des humanitären Völkerrechts eine Straftat dar.
Wichtig war mir nicht nur, über Einzelfälle zu berichten, sondern die Systematik dahinter aufzuzeigen. In den letzten zwei Jahren wurden in der Werchowna Rada über zehn Gesetzesinitiativen eingebracht, die auf eine Reform des Artikels 111-1 abzielten. Keine einzige wurde vom Sprecher der Regierungspartei „Diener des Volkes“ zur Debatte zugelassen.
Wie in einem kürzlich erschienenen Artikel der französischen Zeitung Le Monde betont wurde, geben selbst Angehörige der ukrainischen Justiz in vertraulichen Gesprächen zu, dass das System derzeit keine Gerechtigkeit gewährleisten kann – und raten Angeklagten sogar offen, das Land zu verlassen, da die Gesellschaft „nicht bereit ist, sie fair zu behandeln“. Diese Einschätzung wird auch von mehreren europäischen Gerichten bestätigt – darunter dem französischen Kassationshof, dem irischen High Court und dem österreichischen Berufungsgericht. Alle verweigerten die Auslieferung ukrainischer Bürger:innen mit der Begründung, dass faire Verfahren in der derzeitigen ukrainischen Rechtslage nicht gewährleistet seien.
All diese Fakten sind dokumentiert, bestätigt – und doch entweder weitgehend unbekannt oder werden bewusst ignoriert. Mein Vortrag galt genau diesen beiden Problemen: dem Informationsvakuum und dem politischen Unwillen, das Offensichtliche anzuerkennen. Deshalb sah ich es als notwendig an, die europäischen Abgeordneten eindringlich aufzurufen, ein klares und unmissverständliches Zeichen der Unterstützung für all jene zu setzen, die in der Ukraine heute ungerecht verfolgt werden und keinen Zugang zu einem rechtsstaatlichen Verfahren haben.
– Hat es für post-sowjetische Linke überhaupt Sinn, an solchen Veranstaltungen teilzunehmen?
Die Bedeutung solcher Teilnahmen kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Oft begegnet man der falschen Vorstellung: Wenn unsere Handlungen nicht sofort Wirkung zeigen, sind sie sinnlos. Doch das ist ein gefährlicher Irrtum.
In Wirklichkeit beruht das derzeitige Repressionssystem in der Ukraine auf Schweigen. Seine Stabilität hängt davon ab, dass das Geschehen entweder verschwiegen oder als „unvermeidlich“ im Kriegskontext gerechtfertigt wird. Deshalb wird der Moment, in dem Kritik nicht nur von Einzelpersonen, sondern von ganzen Fraktionen und parlamentarischen Ausschüssen kommt, ein Wendepunkt sein. Dann wird deutlich: Der falsche Konsens bröckelt – und mit ihm die Legitimität der Gewalt ohne Konsequenzen.
Wenn wir Solidarität von linken Abgeordneten erhalten, öffentliche Unterstützung schaffen, das Thema sichtbar machen – dann treffen wir die empfindlichste Stelle dieses Systems. Es ist ein langer, steiniger Weg, aber genau so zerbrechen Mythen. So verändert sich Realität.
Schon jetzt sehen wir, dass unsere Bemühungen nicht ungehört bleiben. Wir erfahren Unterstützung von einflussreichen Abgeordneten und Politiker:innen aus Mitteleuropa – darunter der bereits erwähnte Martinus „Tiny“ Kox, Sophia Chikirou, der ehemalige Vorsitzende der Linksfraktion Andrej Hunko sowie der neu gewählte Vorsitzende George Loukaides. Sie alle haben persönlich ihre Solidarität mit unserer Position zum Ausdruck gebracht – und viele andere, deren Unterstützung sowohl politisch als auch moralisch wichtig ist.